Bis 1780 lebten die Juden in Haigerloch in der Ober- und Unterstadt verstreut, größtenteils zur Miete, da ihnen der Hauserwerb immer wieder erschwert oder auch ganz untersagt worden war. Sie bildeten eine eigene Gemeinde, an deren Spitze der vom Fürsten eingesetzte Judenschultheiß oder „Barnas" stand.
Der Schutzbrief von 1780 und das Entstehen des jüdischen Wohnviertels Haag
Das Jahr 1780 bildete eine tiefe Zäsur in der Haigerlocher jüdischen Geschichte. In seinem Schutzbrief verfügte Fürst Karl Friedrich, dass alle Juden ohne eigenes Haus in der Stadt, sich im Haagviertel niederzulassen hätten. Das Haagschlössle war als „Haag-Guth" ein seit dem 13. Jahrhundert nachgewiesener Freihof.1749 kaufte der Fürst das Gut aus Privatbesitz und begann mit dem Abbruch des alten Anwesens und dem Bau einer kleinen Schlossanlage. Von dieser Anlage wurden vier Gebäude errichtet, welche heute noch erhalten sind: das Haagschlössle (Im Haag 37), der Reitstall (Im Haag 31), die Küche (Im Haag 39) und das Wachhaus (Im Haag 23).. Die vier Gebäude umrahmen einen freien Platz, in dessen Mitte ein Lustschlösschen geplant und begonnen wurde. Wenige Jahre später wurde an der Stelle des nie vollendeten Lustschlösschens die Synagoge errichtet. Nach dem Tod des Fürsten Josef Friedrich stand das Haagschlössle ab 1769 leer und verfiel zunehmend.
Die Ansiedlung der ersten Juden zur Miete im Haagschlössle und den drei Nebengebäuden erfolgte ausschließlich um die verwahrloste Anlage zu verwerten. Hierzu ließ sich der Fürst die notwendigen Baumaßnahmen für zehn Wohnungen von den Juden vorfinanzieren, anschließend vermietete er die Gebäude an die Juden. Von den zehn Familien, die in die Wohnungen einzogen, stammten allerdings nur vier aus der Stadt Haigerloch, die anderen waren neu hinzugekommen. Man kann daher eigentlich nicht von einer Umsiedlung der Juden aus der Stadt ins Haag sprechen. Bis 1795 erhöhte sich die Zahl der in der Stadt verbliebenen Juden auf 22 Familien.
Bereits im Schutzbrief von 1780 war den Juden die Errichtung weiterer Gebäude zugestanden worden, die in den folgenden Jahren auch errichtet wurden: Eine jüdische Herberge hinter dem Haagschlössle, die später als Armenhaus genutzt wurde, sowie eine ebenfalls dort 1785 errichtete Metzgerei.
Die erwähnte Zunahme der Schutzjuden bis 1795 führte offenbar zu sehr beengten Wohnverhältnissen. Ab 1797 gestattete der Fürst den Wohnungsbau auf Pachtbasis: Er überließ den Juden einen Bauplatz, auf welchem diese mit eigenem Geld ein Gebäude errichteten, dessen Besitzer blieb der Fürst. Die Juden wohnten in dem von ihnen errichteten Gebäude gegen einen jährlichen Bodenzins. So entstanden in den folgenden Jahren eine ganze Reihe von Gebäuden. 1813 verkaufte der Fürst einen Teil der Haaggärten und 1815 schließlich das gesamte Haag an die Judengemeinde für 3000 fl, zahlbar in sechs Jahresraten. Damit war das 100jährige Verbot des Häusererwerbs durch die Juden aufgehoben. Entscheidend ist, dass mit diesem Schritt die Schutzjuden zu tatsächlichen Eigentümern ihrer Häuser wurden. Im nördlichen Bereich des Haags wurden sofort mit dem Bau mehrerer Wohngebäude begonnen. Um 1850 war die bauliche Entwicklung im Haag im Wesentlichen abgeschlossen. Bis zum Endes des jüdischen Wohnviertels Haag 1942 gab es kaum noch größere Baumaßnahmen.
Im Haag entstand ab 1780 die „Infrastruktur" einer lebendigen jüdischen Gemeinde: 1783 wurde eine Synagoge eingeweiht sowie in deren unmittelbarer Nähe eine Mikwe eingerichtet. 1803 wurde direkt an das Wohnviertel angrenzend ein neuer Friedhof angelegt. Seit 1820 bestand in Haigerloch ein eigenständiges Rabbinat, seit 1823 eine jüdische Elementarschule. Im Feuerkataster von 1825 sind auch eine Gemeindebackküche und ein Armenhaus aufgeführt. 1844 baute die jüdische Gemeinde ein dreigeschossiges Gemeindehaus, in dem die Schule und die Wohnungen des Rabbiners und des jüdischen Lehrers untergebracht waren. 1845 wurde eine neue Mikwe errichtet. Eine Metzgerei („Judenmetzig") und eine Mazzenbäckerei waren vorhanden. Auch ein jüdisch-geführtes Gasthaus gab es im Wohnviertel, zuletzt bis 1939 das Gasthaus „Rose".
Die Emanzipation der Juden in Haigerloch
Bis weit in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts lebten die Juden als „Schutzjuden" in Haigerloch, deren Rechte und Pflichten sich überwiegend aus den jeweiligen Schutzbriefen ergaben. Sie standen außerhalb des christlichen Untertanenverbandes. Durch die Aufklärung mit ihren Idealen der menschlichen Freiheit und Würde rückten auch die Juden und ihre rechtliche Stellung stärker in den Blickpunkt. Auch im Fürstentum Hohenzollern-Sigmaringen, zu dem Haigerloch gehörte, setzte jetzt die Emanzipation der Juden ein. In einer Bittschrift des Jahres 1829 begehrten die Haigerlocher Juden keine bloße Verlängerung des Schutzbriefes, sondern verlangten die allgemeine Gleichstellung mit den Christen.
Die Verfassung von Hohenzollern-Sigmaringen von 1833 war ein ersten Schritt in diese Richtung. Die Gewissensfreiheit wurde für alle Religionen garantiert. Versagt blieben den Juden aber die vollen staatsbürgerlichen Rechte und das passive Wahlrecht zum Landtag.
Eine grundlegende Neuordnung der rechtlichen Verhältnisse der Juden brachte ein „Landesfürstliches Gesetz, die staatsbürgerlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubens-Genossen betreffend" vom 9. August 1837. Mit diesem Gesetz wurden aus „Schutzjuden" fürstliche Untertanen. Sie waren allen bürgerlichen Gesetzen unterworfen und hatten die gleichen Pflichten und Leistungen zu tragen wie die christlichen Untertanen. Doch die völlige rechtliche Gleichstellung mit den Christen war immer noch nicht erreicht. Erst in Vollziehung der in der Frankfurter Paulskirche beschlossenen Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 bestimmte eine fürstliche Verordnung vom 16. Mai 1849 die Aufhebung aller noch bestehenden Beschränkungen der Juden gegenüber den Christen. Formalrechtlich war die Emanzipation damit in Haigerloch abgeschlossen.
Nach dem Übergang der Fürstentümer Hohenzollern-Hechingen und Hohenzollern-Sigmaringen an Preußen 1850 trat insofern eine Verschlechterung ein, als durch die revidierte preußische Verfassung die christliche Religion de facto zur Staatsreligion erklärt worden war, und somit jede Übernahme von Juden in Staatsämter verhindert werden konnte. Erst ein Gesetz des Norddeutschen Bundes von 1869, das nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs als Reichsgesetz übernommen wurde, brachte 1871 formalrechtlich die völlige Gleichstellung der Juden mit den Christen.
Entwicklung der jüdischen Bevölkerungszahlen
Die Zahl der Juden in Haigerloch dürfte vom 16. bis 18. Jahrhundert ziemlich konstant bei fünf bis zehn Familien gelegen haben. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nimmt die Zahl der Schutzjuden zu. Obwohl im Schutzbrief von 1745 die Zahl auf zehn Familien begrenzt blieb, erhöhte sich deren Zahl bis 1773 auf 17 Schutzjudenfamilien. Zuzüglich zu den seit 1780 im Haag lebenden Familien lebten 1795 noch weitere 22 jüdische Familien in der Stadt. 1836 lebten bereits 305 Juden in Haigerloch, und der Höchststand der jüdischen Bevölkerung war 1858 mit 397 Personen erreicht, was einem Anteil von rund 32 % der Gesamtbevölkerung entsprach. Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzt eine rückläufige Entwicklung bei der jüdischen Bevölkerung ein.
Durch Abwanderung in die größeren Städte und durch eine Auswanderung nach Übersee erhofften sich viele Juden bessere Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Entfaltung. In den Jahren der Naziherrschaft emigrierte eine beträchtliche Zahl. Nach der Volkszählung von 1910 lebten noch 260 Juden in Haigerloch, im Januar 1933 waren es noch 193 Juden, was rund 14 % der Gesamtbevölkerung entsprach. 1942 gab es keine Juden mehr in Haigerloch.
Die Berufe der Juden
Den Juden war die Aufnahme in die Zünfte verwehrt und so konnten sie auch kein „zünftiges Handwerk" lernen. Sie waren daher fast ausschließlich auf den Handel als Erwerbsquelle beschränkt. Lediglich als Metzger, Bäcker oder Gastwirt waren auch Juden zu treffen. Innerhalb des Handels kam dem Viehhandel eine wichtige Bedeutung zu. Das Gewerbekataster von 1858 führt 26 Viehhändler auf, neun weitere Viehhändler handelten zusätzlich noch mit anderen Waren (Lumpen, Leder, Metall). Weitere 14 jüdische Händler betrieben Handelsgeschäfte mit Textilwaren, Nähutensilien, Leder, Pelzwaren, Lumpen und Rosshaar. Auch das Ausleihen von Geld gegen Zins sowie das Beleihen von Pfändern gehörte zum jüdischen Erwerbsleben. Ein nicht zu unterschätzender Faktor war die Betätigung der Juden als wandernde Händler, welche die Bevölkerung auf dem Lande mit Waren versorgten. Eine Geschäftspraktik, die gerade von der bäuerlichen Bevölkerung sehr geschätzt wurde, ersetzte sie doch die mühseligen Einkäufe in der Stadt, was vor allem in der Erntezeit bedeutungsvoll war. Als die Juden 1837 zu den Handwerksberufen zugelassen wurden, blieben sie überwiegend bei den hergebrachten Berufen.
Noch im 20. Jahrhundert war das Verhaftetsein der Juden in den traditionellen Händlerberufen deutlich sichtbar. Das 1935 erschienene NS-Verzeichnis „Deutscher kauf nicht beim Juden" führte für Haigerloch 39 Geschäftsbetriebe auf, von den lediglich vier keine Handelsunternehmungen waren: 22 Viehhandlungen, 3 Kolonialwarenhändler, 3 Manufakturwarenhandlungen, 2 Häute- und Fellhandlungen, 1 Textilwarengeschäft, 2 Mehlhandlungen, 2 Öl- und Fetthandlungen. Hinzu kamen 1 Matzenbäckerei, 1 Metzger, 1 Gastwirtschaft und 1 Ingenieur.
Jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs schien die völlige Integration der Juden in greifbare Nähe gerückt, bot dieser doch die Gelegenheit, antisemitischen Unterstellungen den Beweis eigener militärischer Tüchtigkeit entgegenzusetzen. Wie bei der nichtjüdischen Bevölkerung auch, diente von den Juden etwa jeder zweite Mann im Alter zwischen 15 und 60 Jahren im Ersten Weltkrieg als Soldat. Über 10.000 jüdische Kriegsfreiwillige meldeten sich zu den Waffen. Für das gesamte Reich betrachtet lag die gesamte Mobilisierungsquote bei der nichtjüdischen und jüdischen Bevölkerung mit jeweils 17 % gleich hoch. Hinsichtlich der Gefallenen waren auf nichtjüdischer Seite 16 %, auf Seiten der jüdischen Teilnehmer 15 % Tote zu beklagen.
Auch aus den Reihen der Haigerlocher Juden diente eine beachtliche Gruppe als Soldaten: Haigerloch hatte 1914 rund 1.200 Einwohner, davon waren etwa 240 Juden. Insgesamt haben 243 Männer im Ersten Weltkrieg als Soldaten gedient, darunter 50 Juden. In Prozenten ausgedrückt ergibt das folgendes Bild: Von der nichtjüdischen Bevölkerung waren 20,1 % eingezogen, von der jüdischen Gruppe 20,8 %. Bei den toten Kriegsteilnehmern weichen die Zahlen etwas voneinander ab: Von den nichtjüdischen Soldaten verloren 30 Männer das Leben (15,5 %). Von den jüdischen Kriegsteilnehmern sind sechs gefallen (12 %), weitere 17 Soldaten wurden verwundet (34 %). 16 jüdische Soldaten erhielten für ihre militärischen Leistungen Auszeichnungen, sieben davon mehrmals.
Ein Haigerlocher Jude, der die nationalsozialistischen Konzentrationslager überlebte, fasste in Erinnerung seines von den Nazis ermordeten Vaters dessen Schicksal 60 Jahre nach der Ermordung bitter zusammen: Nach dem Ersten Weltkrieg habe man auch den jüdischen Soldaten versichert, der Dank des Vaterlandes sei ihnen gewiss. Nur etwas mehr als 20 Jahre später habe man sie verfolgt, vertrieben und ermordet.
Jüdische Bruderschaften und Vereine
Die jüdische Gemeinde Haigerloch verfügte über eine ausgeprägte Vielfalt an religiösen Vereinigungen und sonstigen Vereinen. 1925 lebten in etwa 65 Familien noch 210 Juden in Haigerloch, gleichzeitig bestanden am Ort zehn jüdische Vereinigungen und Vereine. Das jüdische Vereinsleben wurde als sehr rege und lebhaft geschildert. Bei den Vereinen handelte es sich nicht um Organisationen des Vereinsrechts im Rechtssinne, d.h. keine Vereinigung war im gerichtlichen Vereinsregister eingetragen.
Jüdische Bruderschaften im 19. Jahrhundert
Bevor mit Rabbiner Maier Hilb im Jahre 1836 erstmals ein staatlich geprüfter Rabbiner angestellt wurde, gab es nur an zwei Sabbaten im Monat eine Predigt in der Synagoge. Damit die Gemeindemitglieder aber darüber hinaus in Predigten unterrichtet werden konnten, kamen die Juden in Privathäusern zusammen, um das Wort Gottes in religiösen Vorträgen zu vernehmen. Aus solchen Versammlungen, die sich bald in verschiedene Klassen mit unterschiedlichen Sabbatstunden teilten, entstanden in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Vereinigungen oder Bruderschaften. In Haigerloch entstanden vier Bruderschaften.
Chevra Bikar Gollim (Die Bruderschaft des Krankenbesuchs):
Sie bestand nur aus Frauen der Gemeinde, die Kranke und Arme mit Speise und Trank versorgten. Ferner sollten die Frauen vom Tanzen mit nicht verwandten Männern und vom Zeigen der Haupthaare abgehalten werden.
Chevron Kadischa (Heilige Bruderschaft):
Diese Bruderschaft besorgte alle notwendigen Verrichtungen bei Todesfällen. Sie bestand als Heiligen-Verein bis zum Untergang der jüdischen Gemeinde.
Bachurim (Bruderschaft der Jungen):
Einziger Zweck dieser Bruderschaft war die Versammlung zu religiösen Vorträgen am Sabbat und an Feiertagen.
Chevron Schochren Tow (das Gute suchende Bruderschaft):
Auch sie hatte ursprünglich nur das Ziel, sich zu religiösen Vorträgen zu versammeln. Als Wohltätigkeitsverein bestand sie bis Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts.
Nachdem mit der Festanstellung eines Rabbiners 1836 der ursprüngliche Zweck der Bruderschaften entfallen war und teilweise auch schädliche Religionslehren verbreitet wurden, sollten die Bruderschaften auf Vorschlag des Rabbiners Maier Hilb aufgelöst und ihr Vermögen zu einem israelitischen Kirchenfonds vereinigt werden. Es löste sich aber nur die Bruderschaft der Jungen (Bachurim) auf. Im späteren 19. und im 20. Jahrhundert war die wichtigste Aufgabe der verbliebenen Bruderschaften die Hilfe bei Todesfällen und bei Bestattungen. Im 20. Jahrhundert gehörte in Haigerloch jeder männliche Jude, der Bar Mizwa war (religiös gebotspflichtig ab Vollendung des 13. Lebensjahres), einer der drei bestehenden Bruderschaften an. Doppelmitgliedschaften in zwei Bruderschaften gab es nicht.
Jüdische Bruderschaften und Vereine im 20. Jahrhundert
Bis zur Auflösung der jüdischen Vereinigungen unter den Nationalsozialisten belebten die zehn bestehenden Organisationen das kulturelle und religiöse Leben der jüdischen Gemeinde auf vielfältige Art und Weise.
Israelitischer Frauenverein
Der Israelitische Frauenverein in Haigerloch wurde 1873 gegründet. Seine Aufgabe war es, armen Wöchnerinnen bei etwaigen Krankheits- und Sterbefällen zu helfen. Bei Kranken übernahm der Verein die Wache. In Todesfällen beschaffte er für Bedürftige die Sterbekleider und übernahm die Totenwaschung. Im Krieg oblag ihm die Pflege der Verwundeten und die Unterstützung der Soldaten und der Hinterbliebenen. Der Verein gehörte dem Jüdischen Frauenbund in Berlin an. Er zählte 1937 noch 69 Mitglieder und befasste sich in den letzten Jahren auch mit religiöser Unterrichtung und Auswanderungsfragen.
Gesangverein Liederkranz
Der Gesangverein wurde im Jahre 1888 zur Pflege der deutschen Lieder gegründet. Ein rein jüdischer Männerchor war eine Rarität. Sein Repertoire unterschied sich nicht von dem anderer Männergesangvereine. Bei zahlreichen Sängerfesten errang der Verein schöne Preise. Mit dem zehn Jahre älteren Sängerbund, der christliche Sänger vereinigte, stand man in sängerischer Konkurrenz. Die Chorleiter des jüdischen Liederkranzes waren immer Nichtjuden, zumeist Lehrer beider christlicher Konfessionen. Seit 1934 ruhte mangels eines Dirigenten die Sängertätigkeit. Der Verein zählte 1937 noch 32 aktive und 14 passive Mitglieder.
Verein für jüdische Geschichte und Literatur
Der Zweck des 1913 gegründeten Vereins lag in der Pflege der jüdischen Wissenschaft und Literatur, sowie in der Vertiefung und Verbreitung der Kenntnisse der jüdischen Geschichte. 1936 wurde aus der Vereinsbibliothek eine stattliche Bücherzahl als sogenanntes "schädliches und unerwünschtes Schrifttum" beschlagnahmt: Unter anderem Werke von Lion Feuchtwanger, Josef Roth, Stefan Zweig und Arnold Zweig. Ein Einspruch des Vorsitzenden gegen diese Maßnahme beim Landrat blieb erfolglos. Ende 1937 belief sich die Mitgliederzahl auf 36 Personen.
Zionistische Arbeitsgemeinschaft
Die Arbeitsgemeinschaft entstand als lose Organisation 1934. Ihre Ausrichtung war bewusst politisch-zionistisch und auswanderungsfördernd. Der Zweck der Vereinigung war nach eigenen Angaben die Propagierung der zionistischen Idee und die geistige Schulung der Mitglieder zur Vorbereitung eines etwaigen zukünftigen Lebens in Palästina. Die Arbeitsgemeinschaft war dem Dachverband "Zionistische Vereinigung in Deutschland" (Berlin) angegliedert. Die Arbeit geschah vor allem in regelmäßigen Schulungsabenden (z.B. im Winter 1938/39 über Palästinafragen), in Vorträgen mit auswärtigen Rednern (z.B. "Die Situation des Zionismus", 1936) und in Filmveranstaltungen (z.B. "Der neue Weg", Tonfilm über Palästina, 1938).Zwischen Oktober 1935 und Dezember 1938 sank die Mitgliederzahl der Arbeitsgemeinschaft von 38 auf 16 Mitglieder.
Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, Ortsgruppe Haigerloch
Die Ortsgruppe des „Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten", einer Organisation ehemaliger Teilnehmer am Ersten Weltkrieg, war 1923 ins Leben gerufen worden. Der "Reichsbund" selbst war 1919 als Abwehrinstrument gegen den Antisemitismus und den ständigen Vorwurf, die Juden Deutschlands seien im Weltkrieg ihrer Wehrpflicht nicht nachgekommen, gegründet worden. Er war mit 40000 Mitgliedern die zweitstärkste jüdische Organisation in Deutschland. Die Ortsgruppe Haigerloch zählte im August 1934 insgesamt 17 Mitglieder (11 davon sogenannte "Frontkämpfer"; 6 Förderer hatten Kriegsdienst geleistet, waren aber nicht an der Front verwendet worden). Die nationalsozialistischen Behörden überwachten strikt, dass dem "Reichsbund" nur Soldaten angehörten, die im Einsatz an der Front gewesen waren. So mussten die örtlichen Fördermitglieder auf ihren Druck hin ihre Mitgliedschaft im August 1934 beenden. Bereits im September des gleichen Jahres traten jedoch 8 ehemalige Haigerlocher Frontsoldaten dem "Reichsbund" bei. Im Oktober 1935 zählte die Ortsgruppe 21 Mitglieder. Durch Erlass der Geheimen Staatspolizei vom 28.10.1936 wurde die Tätigkeit des "Reichsbundes" ausschließlich auf die Betreuung jüdischer Kriegsopfer eingeschränkt, sonstige Versammlungen und Veranstaltungen waren untersagt. Bereits 1934 jedoch durfte der Verein nicht mehr am Volkstrauertag teilnehmen und Ende des Jahres 1938 löste sich die Ortsgruppe auf.
Israelitischer Jugendbund und Literaturverein
Die Gründung dieses Vereins erfolgte 1919. Er war anfangs politisch neutral, verfolgte "keinerlei politische Tendenz" und war dem "übergeordneten Verband nicht zionistischer Richtung" angeschlossen oder zumindest ideell verbunden (1934). Dies scheint sich jedoch bis Oktober 1938 geändert zu haben, als die anfänglich politisch neutrale Einstellung nach eigenen Angaben zugunsten einer zionistischen Ausrichtung aufgegeben wurde. Zweck des Vereins war die geistige, religiöse und literarische Fortbildung der Vereinsmitglieder. 1937 hatte der Verein noch 13 Mitglieder, deren Lebensalter zwischen 14 und 35 Jahren lag.
Jüdische Kulturvereinigung "Schwarzwald"
Hierbei handelte es sich nicht um einen Haigerlocher Verein im eigentlichen Sinne, vielmehr bestand am Ort eine starke örtliche Mitgliedergruppe des in Horb am Neckar ansässigen jüdischen Vereins. Dieser war dem Jüdischen Kulturbund in Berlin angeschlossen. Seine "jüdisch-politische Einstellung" war ,nach eigenen Angaben "neutral, assimilatorisch, zionistisch, orthodox" (Oktober 1935), was etwas auffällig erscheinen mag. Später wird die Haltung wieder selbst als "neutral" angegeben (1936). 1936 war die Mitgliederzahl auf 70 Personen gewachsen. Der Kulturbund entfaltete eine reiche kulturelle Aktivität. Konzertveranstaltungen mit auswärtigen Sängern, ein "Bunter Abend" (mit Musik, Theater- und Tanzeinlagen) und Konzertveranstaltungen mit anspruchsvollem Programm (so werden Werke von Händel, Schumann, Mahler, Wolf, Chopin, Mendelssohn, Mozart, Gluck, Saint-Saens, Tschaikowski, Mussorgski, Verdi, Schubert aufgeführt) lockten auch viele Besucher aus der Umgebung nach Haigerloch. Theateraufführungen (mit Stücken von Molnar und Klabund), Rezitationsveranstaltungen und „Bunte Abende" (mit Musik, Theater- und Tanzeinlagen) rundeten das kulturelle Angebot ab.
Juden in nichtjüdischen Vereinen
Das kulturelle und gesellige Leben in der kleinen Stadt Haigerloch bot viele Kontaktmöglichkeiten zwischen Juden und Nichtjuden. Besonders die beiden Männergesangvereine „Sängerbund" und „Liederkranz" traten gleichzeitig in der Öffentlichkeit auf. Dennoch waren, abgesehen von der Ausnahme des Verschönerungsvereins, Juden nur ganz vereinzelt Mitglieder in nichtjüdischen Vereinen. So gibt es Hinweise, dass der Fischereiverein in wenigen Fällen auch Berechtigungskarten für Juden ausstellte. Auch im 1878 gegründeten Turnverein dürften einzelne Juden Mitglieder gewesen sein, da der Sportverein sein Stiftungsfest im jüdischen Gasthaus „Rose" beging, und auch viele Juden an der Feier teilnahmen. Ein Vorstandsmitglied des Israelitischen Frauenvereins war gleichzeitig im Vaterländischen Frauenverein. In der früheren Pflichtfeuerwehr waren naturgemäß auch viele Juden verzeichnet. Nach der Umwandlung in eine Freiwillige Feuerwehr dienten ausweislich der Grundlisten auch Juden als Feuerwehrmänner der Allgemeinheit. Doch 1933 wurden die letzten beiden jüdischen Mitglieder zum Austritt aus der Freiwilligen Feuerwehr gedrängt.
Der 1886 gegründete Verschönerungsverein sah seinen Vereinszweck in der besseren Darstellung der Naturschönheiten Haigerlochs und seiner Erschließung für den Fremdenverkehr. Hierzu nahm der Verein vor allem Einfluss auf die landschaftsgärtnerische Gestaltung der Stadt und ihre Umgebung. Spazierwege wurden angelegt, Aussichtspunkte eingerichtet, Ruhebänke aufgestellt und ein Stadtgarten angelegt. Steilhänge wurden aufgeforstet und großzügig Fliedersträuche angepflanzt. Von den 78 Vereinsmitgliedern zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren 31 Juden ( nahezu 40 Prozent). Zwölf Prozent aller Juden in Haigerloch gehörten dem Verschönerungsverein an.
Die Mitgliedschaft der jüdischen Bewohner in jüdischen und nicht-jüdischen Vereinen zeigte ein vielschichtiges Bild der jüdischen Gemeinde. Einerseits gab es die rein jüdischen Vereine mit ihren traditionellen Aufgaben ritueller Art. Unter dem Anwachsen des Antisemitismus bildeten sich im 20. Jahrhundert auch Vereinigungen mit ausgeprägt zionistischem Hintergrund, die eine spezifisch jüdische Form des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Überlebens anstrebten. Demgegenüber stand der Gesangverein Liederkranz, der sich für eine weitgehende Assimilation unter gleichzeitiger Wahrung der jüdischen Gruppenidentität einsetzte. Die Mitgliedschaft im Verschönerungsverein schließlich war die am weitesten gehende Form der Angleichung an das nichtjüdische Umfeld. Sie zielte letztlich darauf, am allgemeinen gesellschaftlichen Leben in der Stadt in vollem Umfang teilzuhaben.
Zusammenleben von Juden und Christen
Das Zusammenleben von Christen und Juden war über die Jahrhunderte hinweg nicht reibungsfrei. Besonderen Anstoß erregte das Betteln, Hausieren und der Wucher der Juden. Die christlichen Kaufleute beklagten sich gehäuft über die jüdische Konkurrenz, vor allem der Hausierhandel war den christlichen Händlern ein Dorn im Auge.
Da den Juden der Zugang zu den Zünften verwehrt war, konnten sie kein „zünftiges" Handwerk lernen, und da ihnen auch der Grunderwerb verboten war, Ackerbau und Viehzucht somit ausschieden, blieb ihnen nur der Handel als Lebensgrundlage. Als Wanderhändler spielten sie gerade im ländlichen Raum ein gewichtige Rolle: Sie ersetzten den Dorfbewohnern die beschwerlichen und in der Erntezeit unmöglichen Einkäufe in der Stadt. Die Bürger Haigerlochs verlangten daher 1715 die Abschaffung des Judenschutzes, was eine Vertreibung bedeutet hätte. Dem traten die Dörfer 1720 entschieden entgegen. Sie verwiesen darauf, dass das Hausieren eine bequeme Einkaufsmöglichkeit biete und dass die Juden auch Lebensmittel, Rohprodukte und alte Gebrauchsgegenstände in Zahlung nähmen, die kein Haigerlocher Kaufmann annähme. Die Absicht der Haigerlocher ziele einzig darauf, die Konkurrenz der Juden zu beseitigen. Das Vorbringen der Dörfer trifft genau jenen Vorgang, der in der Geschichte der Juden immer wieder zu beobachten ist: Die jüdischen Konkurrenten werden in eine Nische abgedrängt. Sobald sie sich dort einigermaßen behaupten können, versucht man, sie in eine andere Ecke zu drängen oder völlig zu vertreiben.
Die Bürgerschaft war zum Teil bei den Juden verschuldet. 1715 verlangte deshalb die Bürgerschaft in Haigerloch in einer Eingabe an den Landesherrn die Abschaffung des Judenschutzes, was die Vertreibung der Juden bedeutet hätte. Die Christen erhofften sich davon, mit einem Schlag die jüdische Handelskonkurrenz los zu werden, auch glaubten viele, auf diesem Weg einfach von ihren Schulden befreit zu werden.
Neben der Stadt agitierte zeitweilig auch der Landesherr gegen die Juden. Fürst Joseph Friedrich wollte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Juden aus Haigerloch ausweisen und gab der Bevölkerung eine entsprechende Zusage. Dennoch erneuerte er 1745 den Schutzbrief mit der Begründung, die Juden hätten sich in letzter Zeit untadelig verhalten. 1749 verbot er seinen Schutzjuden das Heiraten mit dem Ziel, die Juden nach und nach aussterben zu lassen. Das strenge Heiratsverbot wurde jedoch bald eingeschränkt. Der Fürst zeigte sich als nüchternen Pragmatiker, der mit den eigentlich nur angedrohten Maßnahmen wie „Ausweisung" und „Heiratsverbot" einerseits seine christlichen Untertanen bei der Stange halten wollte, ohne andererseits selbst nicht auf die Schutzgelder zu verzichten. Gescheitert ist um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein „Missionierungsversuch" an den Juden. Eine fürstliche Verordnung verpflichtete sie an jedem Sonntag zum Besuch der christlichen Predigt in der Schlosskirche. Die Juden versuchten sich dieser Anordnung durch die Flucht ins wenige Kilometer entfernte Ausland zu entziehen, kehrten jedoch nach einer Aufforderung durch den Fürsten nach Haigerloch zurück. Die Juden baten um Vergebung, und der Fürst milderte die Anordnung dahin ab, dass nur noch ein Besuch der christlichen Predigt im Vierteljahr verpflichtend war. Fünf jüdische Familien zogen aus Haigerloch gegen ein besonderes „Ausstandsgeld" ab, die übrigen Familien unterwarfen sich. Drei Familien traten in der Folge zur katholischen Religion über.
Die wirtschaftlichen Reibungspunkte fanden auch darin ihren Ausdruck, dass zwischen 1808 und 1846 insgesamt 16 fürstliche Verordnungen Reglementierungen und Verbote für das Hausieren enthielten, weitere 6 Verordnungen befassten sich mit der Bettelei.
Vor der völligen Emanzipation der Juden waren vor allem auch die Verbote beim Erwerb von Grund und Boden, die erst 1835 aufgehoben wurden, sowie die Heiratsverbote für die Juden eine enorme Beeinträchtigung ihres Lebens. 1749 erging ein Heiratsverbot durch den Landesherrn, um so die Juden langsam aussterben zu lassen. Man wird jedoch annehmen dürfen, dass es dem Fürsten hierbei weniger um eine „antijüdische" Maßnahme ging, immerhin verdiente er ja nicht unbeträchtlich an den Schutzgeldern der Juden. Es spricht einiges dafür, dass es dem Fürsten eher darum ging, seine christlichen Untertanen in ihren Beschwerden gegen die Juden zu besänftigen. Das Heiratsverbot wurde jedenfalls nicht strikt angewendet.
Im späten 19. und 20. Jahrhundert scheint es immer wieder zu Störungen im Bereich des Feuerwehrdienstes gekommen zu sein. Wegen der regelmäßigen Übungen am Samstagnachmittag blieben viele jüdische Feuerwehrmänner den Übungen wegen des Sabbats fern. Regelmäßig wurden sie mit Bußgeldern belegt.
Im 20. Jahrhundert scheint bis zum Emporkommen des Nationalsozialismus zwischen der jüdischen und der christlichen Bevölkerung ein zumindest nach außen hin ungetrübtes Verhältnis bestanden zu haben. Man zeigte Interesse für die wechselseitigen religiösen Feiertage. Am Sabbat waren christliche Nachbarn bei häuslichen Verrichtungen, die den Juden durch die Religion untersagt waren, hilfreich zur Hand („Schabbes-Goj"). Auf dem Postamt öffnete man aus dem gleichen Grund für die jüdischen Geschäftsleute die eingehenden Sendungen. Die christliche Käuferin konnte am Sabbat im jüdischen Textilgeschäft einkaufen: Sie musste sich den Stoff selbst vom Stoffballen schneiden und kam zum Bezahlen am Montag wieder. Christliche und jüdische Kinder trafen sich außerhalb der Schule beim Spiel und Baden. Auch die Juden schmückten an nationalen Feiertagen ihre Häuser mit Flaggen. Am Gedenktag für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs nahmen selbstverständlich auch Vertreter der jüdischen Gemeinde und des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten teil. Christen wie Juden verkehrten gemeinsam in der jüdischen Wirtschaft. Die Frau des jüdischen Lehrers gehörte als einzige Nichtchristin einem „Kaffeekränzchen" von Honoratiorenehefrauen an. Als zu Beginn des nationalsozialistischen Regimes eine Horde ortsfremder Hitlerjugend mit antisemitischen Liedern durch Haigerloch zog, entschuldigte sich der damalige Bürgermeister schriftlich beim Vorsteher der jüdischen Gemeinde.
Es gab positive Zeichen eines entspannten Zusammenlebens von Juden und Christen. Aber weder die Erinnerung christlicher Zeitzeugen an ein harmonisches Zusammenleben, die in dem Satz gipfeln „Wir haben sie halt mögen, unsere Juden", noch die Erinnerung jüdischer Emigranten an eine vor dem Regime der Nazis im religiösen und sozialen Umfeld ungestörte Kindheit in Haigerloch werden einer objektiven Darstellung des tatsächlichen Zustandes gerecht. Vieles erscheint in der Erinnerung Jahrzehnte später verklärt und idealisiert. Es gab in Haigerloch – wie anderswo – auch dunkle Seiten des Zusammenlebens. Zumeist war es kein „Miteinander" sondern lediglich ein „Nebeneinander", das schließlich in der Zeit des Nationalsozialismus zu einem offenen „Gegeneinander" wurde, mit einem Ende in Schrecken und unsäglichem Grauen.